Erdöl: Das »Ölzeitalter« im Nahen und Mittleren Osten

Erdöl: Das »Ölzeitalter« im Nahen und Mittleren Osten
Erdöl: Das »Ölzeitalter« im Nahen und Mittleren Osten
 
In dem Maße, in dem die arabische Welt ab dem 18. Jahrhundert in den Einflussbereich des kapitalistischen Wirtschaftssystems geriet, unterlagen diese Länder einem internationalen Reproduktionszyklus, der den Bedürfnissen der Kolonialmetropolen folgte. Konkret bedeutete das: Die betroffenen Regionen lieferten Rohstoffe und dienten als Absatzmärkte, während ein Großteil des dort erwirtschafteten Reichtums nach Europa floss. Eine Industrialisierung fand nur ansatzweise in Gestalt einer Rohstoff verarbeitenden Nahrungsmittel- und Textilindustrie (Baumwolle, Zucker, Obst, Gemüse) statt. Die äußere Abhängigkeit bestimmte so auch, überkommene Strukturen zersetzend, die Entwicklung der Gesellschaften in den arabischen Ländern. Eigenständige Entwicklungsimpulse gingen verloren. Der historische Rückstand in der Produktion, der zunächst nicht allzu groß war, verwandelte sich in Unterentwicklung.
 
 Die arabische Gesellschaft im Umbruch
 
Auch nachdem die arabischen Völker ihre Eigenstaatlichkeit errungen hatten, blieben ihnen im ökonomischen und sozialen Bereich Altlasten des Kolonialismus. Zwei Stichworte charakterisieren ihre damalige Situation: Heterogenität und Umbruch. Allgemein, wenngleich von Land zu Land in unterschiedlichem Ausmaß, dominierte die Landwirtschaft. In ihr suchte die Mehrheit der Bevölkerung Arbeit und Brot, und dies weithin unter feudalen oder halbfeudalen Bedingungen. Technologie und Geräte hatten sich in ihr über Jahrhunderte hinweg kaum oder gar nicht verändert. In Ägypten etwa war das Werkzeug, das auch der ärmste Fellache besaß, nämlich die Hacke, schon aus der Pharaonenzeit bekannt. Landarbeit war entsprechend hart und aufwendig. Trotzdem ernährte sie kaum denjenigen, der sie verrichtete. Der abhängige Fellache hatte nicht nur Pacht zu zahlen, sondern auch vielfältige Steuern: u. a. Grund-, Gebäude-, Vieh- und Wegesteuer. Hinzu kamen oft Wucherzinsen für Schulden, sodass ihm mitunter nur ein Fünftel der Ernte verblieb. Die Arbeitsproduktivität war niedrig, sodass der Anteil, den die in der Landwirtschaft Beschäftigten zum Bruttosozialprodukt beitrugen, wesentlich unter ihrem Anteil an der erwerbstätigen Bevölkerung lag. Vor allem auf der Arabischen Halbinsel waren vorkapitalistische Verhältnisse noch weit verbreitet und fest verwurzelt. Beduinen, unter Bedingungen der Stammesgesellschaft lebend, stellten einen hohen Bevölkerungsanteil. Nur zögernd nahmen sie zugunsten der Sesshaftigkeit Abschied von ihrem Nomadendasein. Darüber hinaus existierte in Saudi-Arabien bis in die Fünfzigerjahre hinein die Sklaverei, im Nordjemen bis 1962.
 
Im Zuge der Herausbildung kapitalistischer Wirtschaftsformen, vornehmlich in Ägypten, Syrien und Libanon, bildeten sich neue Oberschichten: kommerziell orientierte Großgrundbesitzer sowie Finanz- und Handelskapitalisten. Zugleich entstand eine Industriearbeiterschaft, deren Angehörige für geringen Lohn lange arbeiten mussten; Frauen- und Kinderarbeit waren nicht selten. Sozial motivierte Auseinandersetzungen entbrannten. Die der Dorfgemeinschaft und der Familie eigentümlichen Solidarbindungen und -verpflichtungen überlagerten jedoch noch lange die neuen gesellschaftlichen Strukturen. Im Zuge dieser Entwicklung formierte sich auch eine neue Bildungsschicht, die in die freien Berufe und in den Staatsdienst drängte. Zu einer erstrangigen Herausforderung für arabische Länder wurde das rasche Bevölkerungswachstum. Hier stieg zwischen 1930 und 1979 die Bevölkerung von 53 auf 162 Millionen an. Dabei nahm vor allem der Anteil der Städter zu. In gesellschaftlichen Normen wie in Verhaltens- und Denkweisen dominierte der Traditionalismus, das heißt die unbedingte Bejahung des Überkommenen, das allein schon durch seine Existenz eine Rechtfertigung erfuhr. Dieser Traditionalismus manifestierte sich vornehmlich im Islam, zu dem sich über 90 Prozent der Araber bekannten. In Saudi-Arabien hatte der Koran den Status einer Verfassung, die Scharia war geltendes Recht. Traditionelle Haltungen reichten bis in das Intimleben. Um ihre Gesellschaften zu modernisieren und dem Westen gegenüber zu stärken, forderten Reformer eine weit gehende oder gänzliche Trennung von Religion und Staat. Dieser Forderung widersprachen Fundamentalisten, die sich auf die Frühzeit des Islam beriefen, um die in ihren Augen erstarrte und gottlos gewordene Gesellschaft zu verändern und Fremdherrschaft zu eliminieren.
 
 Die Problematik der Erdölförderung
 
Zunächst allmählich, dann desto rascher verschaffte sich ein neuer Wirtschaftsfaktor im Nahen und Mittleren Osten Geltung: das Erdöl. Westliche Gesellschaften begannen mit seiner Förderung 1908 in Iran, 1929 in Irak, 1939 in Saudi-Arabien, 1946 in Kuwait, 1958 in Syrien, 1960 in Algerien und 1961 in Libyen. 1975 wurden die Weltreserven des Erdöls auf 90 Milliarden Tonnen geschätzt, wovon über die Hälfte — 50 Milliarden Tonnen — auf den Nahen und Mittleren Osten entfallen sollten. Danach kamen auf Saudi-Arabien 20,3 Milliarden Tonnen (22,6 Prozent der Weltreserven), es folgten Kuwait mit über 9,3 Milliarden Tonnen (10,4 Prozent), Iran mit 8,7 Milliarden Tonnen (9,8 Prozent) und Irak mit 4,6 Milliarden Tonnen (5 Prozent). Das Erdöl gewann nicht nur in den Auseinandersetzungen, die im und um den Nahen und Mittleren Osten geführt wurden, erstrangige Bedeutung, sondern es veränderte auch die gesellschaftlichen Strukturen in der Region tief greifend.
 
Zunächst war Erdöl ein Geschäft, und zwar ein für die westliche Welt außerordentlich gewinnträchtiges. Ihre Ölgesellschaften machten sich die Ergiebigkeit der Quellen im Nahen und Mittleren Osten, die geringe Tiefe der Öl führenden Gesteinsschichten und die niedrigen Kosten, die für die Bezahlung der Arbeitskräfte anfielen, zunutze. In den USA etwa mussten sie für die Gewinnung eines Barrels, das sind rund 159 Liter, 151 Cent aufwenden, in Irak nur 4Cent und in Kuwait 10 Cent. Über ein halbes Jahrhundert hielten sie den posted price oder Listenpreis, festgelegt durch ihre Kalkulation, annähernd gleich niedrig. Das führte zu einem Raubbau an den Ölreserven in dieser Region selbst, darüber hinaus zu einer Ölverschwendung in den westlichen Industrieländern. Die Förderländer erhielten vom Listenpreis nur etwa ein Drittel. Bei den Förderanlagen wurden weder eine petrochemische Industrie noch Erdgasfabriken errichtet. Erdöl war indes auch ein Politikum. Es gewann zunächst als Treibstoff, dann als Rohstoff für die Petrochemie bei der Industrialisierung und bei der Kriegführung im Industriezeitalter entscheidende Bedeutung. Jenen Machthabern im Nahen und Mittleren Osten, aus deren Boden Erdöl sprudelte, flossen ohne nennenswerte Gegenleistungen »Renten« zu, über die sie frei verfügen konnten. Das entband sie vom Zwang zu eigener Produktivitätsentwicklung und stabilisierte in solchen »Rentierstaaten« die Machtstrukturen, auf denen ihre Herrschaft beruhte. Erdöl, in seiner Einzigartigkeit als Rohstoff und in seinen Verheißungen am ehesten mit Gold zu vergleichen (»schwarzes Gold«), vermochte bereits aus sich heraus Begehrlichkeiten zu wecken.
 
Noch 1959/60 glaubten die Ölgesellschaften, den Ölpreis diktieren zu können, und senkten ihn um 10 Cents pro Barrel. Daraufhin gründeten Entwicklungsländer, in denen der Rohölexport die hauptsächliche Wirtschaftsgrundlage war, im September 1960 die Organization of Petroleum Exporting Countries (OPEC), um mit deren Hilfe ihre Erdölpolitik zu koordinieren, die Ölpreise auf den internationalen Märkten zu stabilisieren und eine staatliche Beteiligung an den ausländischen Ölgesellschaften durchzusetzen. Der OPEC gehörten zunächst Iran, Irak, Kuwait, Saudi-Arabien und Venezuela an. In der Folgezeit traten ihr weitere Länder — zum Beispiel Indonesien, Libyen, Algerien, Nigeria — bei. Arabische Erdöl fördernde und exportierende Länder gründeten 1968 eine eigene Organisation (OAPEC). 1971 beschloss die OPEC, sich zuvor ihrer Möglichkeiten offensichtlich nicht bewusst, anlässlich einer Konferenz in Teheran eine dreißigprozentige Preiserhöhung für Erdöl. In den Siebzigerjahren erlangten arabische Staaten durch Kapitalbeteiligungen, Teilverstaatlichungen und Verstaatlichungen die Kontrolle über das in ihrem Boden lagernde Öl. Libyen übernahm im Dezember 1971 den fünfzigprozentigen Anteil der BP am Sarir-Ölfeld. Irak nationalisierte 1972/73 den Erdölsektor vollständig. Die Golfstaaten unterzeichneten mit den Ölgesellschaften Beteiligungsverträge.
 
Die Mitglieder der OPEC hatten über das gemeinsame Anliegen hinaus jedoch auch unterschiedliche Interessen, so bei der Preisgestaltung. Einerseits gab es Länder mit niedriger Einwohnerzahl und hoher Ölproduktionskapazität — Saudi-Arabien, Kuwait, Libyen, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar —, die die erzielten Öleinnahmen nur begrenzt im eigenen Land verwenden konnten. Aus diesem Grund und um sich ihre Einnahmequelle langfristig zu sichern, verfolgten sie eine moderate Preispolitik. Auf der anderen Seite standen jene Erdöl fördernden Staaten, zum Beispiel der Irak und Algerien, die zwar auch hohe Öleinnahmen erzielten, doch aufgrund einer beträchtlich größeren Bevölkerungszahl an weiter gehenden wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten interessiert waren, besonders an einer forcierten Industrialisierung. Unter dieser Prämisse betrieben vornehmlich Irak und Algerien eine Politik der Preismaximierung.
 
 Sozialistische Gesellschaftsmodelle in Arabien
 
Mit dem Kampf gegen den Kolonialismus verband sich mehr oder weniger explizit zugleich die Frage nach der gesellschaftlichen Struktur eines unabhängig gewordenen Staates. In Ägypten plädierten die »Freien Offiziere« nach ihrer Machtergreifung für soziale Gerechtigkeit; den Kapitalismus nahmen sie als das Normale hin. Gamal Abd el-Nasser ließ sich in Wirtschaftsfragen von dem Großunternehmer Ahmed Abbud beraten. Doch musste er feststellen, dass die führende soziale Schicht, obgleich sie von der Revolution profitierte — nach dem Suezkrieg 1956 hatte sie einen Teil der »ägyptisierten« Unternehmen übernommen —, sich kaum für die volle Unabhängigkeit des Landes engagierte. Zunehmend setzte Nasser daher auf den Sozialismus, den er 1955 erstmals als Ziel der Revolution benannte. Er verfolgte damit nicht die Realisierung einer marxistischen Programmatik — dem Marxismus stand er wegen seines atheistischen Charakters und der zentralen Lenkung der kommunistischen Weltbewegung durch Moskau ablehnend gegenüber —, sondern wollte einfach dem Staat mehr Befugnisse in der Wirtschaft und seinen Landsleuten einen größeren Anteil an den Früchten der Entwicklung sichern. 1961 erließ die ägyptische Führung Dekrete und Gesetze, die darauf zielten, die herrschende gesellschaftliche Schicht aus Schlüsselpositionen in Wirtschaft und Politik zu verdrängen. So verstaatlichte sie alle Banken und Versicherungsgesellschaften. Ein neues Bodenreformgesetz legte fest, dass eine Person nur noch höchstens 100 Feddan (42 ha) Boden einschließlich Brach- und Weideland besitzen durfte. In den Dörfern gewannen Genossenschaften an Bedeutung, die den Bauern Saatgut, Düngemittel und Maschinen zur Verfügung stellten sowie die Vermarktung der Produkte übernahmen. Ein »Nationalkongress der werktätigen Kräfte des Volkes«, der im Mai 1962 in Kairo zusammentrat, bekannte sich in einer »Charta der nationalen Aktion« zu einer sozialistischen Lösung des Problems der ökonomischen und sozialen Rückständigkeit: Sie sei eine »historische Notwendigkeit«. Die neu gegründete Arabische Sozialistische Union sollte als politische Plattform die Ägypter in die neue Entwicklung einbeziehen. 1968 zählte sie 5 Millionen Mitglieder, doch nur 10 Prozent von ihnen waren in dieser Organisation aktiv; in den Leitungsgremien gaben vielfach noch Vertreter der ehemals privilegierten Schichten den Ton an. In der ersten Hälfte der Sechzigerjahre realisierte Ägypten seinen ersten Fünfjahresplan mit positiver Bilanz. Das Pro-Kopf-Einkommen wuchs in diesem Zeitraum von über 50 auf annähernd 60 Ägyptische Pfund (1Ägyptisches Pfund entsprach zu diesem Zeitpunkt etwa 8DM), und dies bei einer Bevölkerung, die von 25,5 auf 29,5 Millionen gewachsen war.
 
Parallel und in Rivalität zum Nasserismus setzte sich die Baath-Partei, aus ihrem panarabischen Selbstverständnis heraus in verschiedenen Ländern vertreten, für sozialistisch orientierte Entwicklungen ein. In Syrien verstaatlichte sie noch 1963 alle Banken. Weitere Nationalisierungen folgten. In kurzer Zeit betrug der Anteil des staatlichen Sektors an der Industrieproduktion 80 Prozent, am Export 60 Prozent und am Import 40 bis 45 Prozent. Syrien erlangte als erstes arabisches Land die volle Kontrolle über seine Erdölwirtschaft. Im Rahmen ihres panarabischen Programms bekannte sich die Baath-Partei auch in Irak zum Sozialismus.
 
Der Sozialismus war damals für viele das Gesellschaftsmodell der Zukunft. Die Sowjetunion hatte nach dem Zweiten Weltkrieg enorm an Ausstrahlung gewonnen. Ihre Drohung während des Suezkriegs 1956, notfalls gewaltsam den Frieden herbeizuführen, hinterließ einen nachhaltigen Eindruck. In den arabischen Ländern, die sich zum Sozialismus bekannten, blieb er indessen weithin eine Orientierung ohne hinreichende praktische Konsequenzen, und die Unterentwicklung, die er rasch überwinden sollte, war ein schlechter Ausgangspunkt für seine Realisierung. Kapitalistische Entwicklungen setzten sich, wenngleich beschnitten, fort, und mit ihnen die ihnen eigenen ökonomischen und sozialen Differenzierungen und Polarisierungen. Eine neue Elite, die sich vornehmlich aus Militärs rekrutierte, übernahm Schlüsselpositionen in Staat und Wirtschaft. Sie tat etwas für die Bevölkerung — subventionierte etwa Grundnahrungsmittel —, ohne indessen diese als Subjekt in die angestrebte Entwicklung einzubeziehen. Deren Aktivierung standen auch die vorherrschenden Verhaltens- und Denkweisen entgegen, nach denen das Überkommene bewahrt und nicht revolutioniert werden sollte. Hinzu trat der Nahostkonflikt. Er verschlang nicht nur materielle Ressourcen, sondern lenkte die Aufmerksamkeit von anderen zu lösenden Problemen ab. Der »reale Sozialismus« in den von der Sowjetunion geführten Ländern erfüllte auf Dauer die Erwartungen der Entwicklungsländer nicht. Die Machtpolitik, die die Sowjetunion betrieb, stieß bei Politikern, durch ihre Erfahrungen mit dem Kolonialismus sensibilisiert, auf Befremden.
 
Der Sechstagekrieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten (Juni 1967) gewann in diesem Kontext eine immense gesellschaftspolitische Bedeutung. Mit Ägypten und Syrien hatten jetzt dieselben Kräfte, die sich für den Sozialismus engagierten, eine katastrophale militärische Niederlage zu verantworten. Zwar bekundeten Millionen Ägypter Nasser spontan ihr Vertrauen und bewogen ihn, einen angekündigten Rücktritt nicht zu vollziehen. Doch die konservativen Kräfte gingen in die Offensive. Die Niederlage, argumentierten sie, sei eine Folge des Unglaubens, der sich unter Arabern breit gemacht habe. Allein mit der Rückkehr zum Islam kehre auch verloren gegangene Stärke zurück. Die Regierenden gerieten in die Defensive. Das hinderte sie jedoch nicht, gegen Demonstranten vorzugehen, die aus einer radikaleren Perspektive eine konsequentere Umsetzung sozialistischer Programmatik anmahnten. Sie standen so zwei Widersachern gegenüber, was ihre Position destabilisierte. Nach Nassers Tod im September 1970 versprach sein Nachfolger Mohammed Anwar as-Sadat, der zu den »Freien Offizieren« gehört hatte, die Politik seines Vorgängers fortzusetzen, schlug jedoch einen entgegengesetzten Kurs ein. Er schaltete seine Gegner aus, propagierte eine Politik der Öffnung, förderte innenpolitisch eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nach kapitalistischen Maßstäben und setzte außenpolitisch auf eine Allianz mit dem Westen, besonders mit den USA.
 
In Libyen verstanden die von Moamar al-Gaddhafi geführten Offiziere, die König Idris as-Senussi stürzten und die Monarchie abschafften, ihr Tun als Fortsetzung der ägyptischen Revolution vom 23. Juli. Die neue Führung radikalisierte ihre antiwestliche Haltung und unterstützte Minderheiten und Staaten, die um Unabhängigkeit kämpften. Aufgrund mehrfach erhobener Vorwürfe der USA, Libyen fördere den internationalen Terrorismus, kam es zwischen beiden Seiten wiederholt zu militärischen Zwischenfällen. Gaddhafi entwickelte unter Rückgriff auf den Islam und auf Traditionen der Stammesgesellschaft in seinem »Grünen Buch« eine »dritte Universaltheorie«, die über Kapitalismus und Sozialismus hinausweise und allein imstande sei, die Menschheitsprobleme zu lösen.
 
 Die arabische Erdölpolitik
 
Bereits im Zusammenhang mit dem Sechstagekrieg 1967 sprachen einige arabische Staaten davon, Erdöl als politische Waffe einzusetzen. Nach dem Jom-Kippur-Krieg (Oktober 1973) entschlossen sich die OAPEC-Staaten, Öllieferungen an proisraelisch eingestellte Staaten schrittweise einzuschränken sowie an die USA und die Niederlande überhaupt nichts mehr zu liefern. Ferner nahmen sie, mit Wiederholungen in der Folgezeit, Preiserhöhungen vor. Von Januar 1973 bis Januar 1974 stieg der Listenpreis für die Qualität Arabian Light auf mehr als das Vierfache. Öl ließ sich indessen nur begrenzt als Waffe einsetzen. Vor allem die Staaten, in denen Erdöl die wesentliche Einnahmequelle darstellte, waren auf den Verkauf angewiesen. Aus dieser Situation heraus ließ sich nur schwer zu einer gemeinsamen Haltung finden. Dennoch bewegte sich etwas: Die OPEC-Staaten erhöhten sprunghaft ihre Einnahmen, von 25 Milliarden Dollar im Jahre 1972 auf über 110 Milliarden Dollar im Jahre 1974. Journalisten sprachen von der wohl gewaltigsten Umverteilung von Reichtum in der Weltgeschichte. Ihr Einkommen diente einigen Staaten dazu, sich zu konsolidieren, unter anderem durch den Ausbau einer Infrastruktur. Zu einem großen Teil flossen die Einkünfte indes in westliche Staaten zurück: 1974 waren dies 60 Milliarden und 1975 40 Milliarden Dollar. Die EWG, die 30 Prozent, und Japan, das 70 Prozent des Ölbedarfs in Nah- und Mittelost deckte, sprachen sich im November 1973 dafür aus, dass Israel die besetzten arabischen Gebiete räume; ferner solle den legitimen Rechten der Palästinenser Rechnung getragen werden. Die USA demonstrierten offiziell Unnachgiebigkeit. Ihr Außenminister Henry Kissinger drohte im Dezember 1974, die arabischen Ölfelder würden militärisch besetzt, falls das im Interesse der industrialisierten Welt liege.
 
Die »Ölwaffe« hatte Nebenwirkungen: Sie traf nicht nur industrialisierte Staaten, sondern auch diejenigen Entwicklungsländer — und das waren die weitaus meisten —, die über kein eigenes Erdöl verfügten. 1976 mussten sie nahezu 26 Milliarden Dollar für Öleinfuhren bezahlen — fast fünfmal so viel wie 1972. Auch andere Produkte, die sie dringend brauchten, darunter Düngemittel, verteuerten sich. Das wiederum verlangsamte die »grüne Revolution« in bestimmten Entwicklungsländern und förderte Differenzierungen. Publizisten sprachen im Unterschied zur Dritten Welt nunmehr auch von einer Vierten Welt; zu ihr rechneten sie die ärmsten, von den Ölpreiserhöhungen besonders hart betroffenen Entwicklungsländer.
 
 Der Mord an Sadat
 
Die Ägypter knüpften an den israelisch-arabischen Krieg im Oktober 1973 und die israelisch-arabischen Verhandlungen in Camp David (USA) hohe Erwartungen. Und tatsächlich erlebte die Wirtschaft vor allem infolge steigender Erdölpreise einen gewissen Aufschwung. Ägypten produzierte 1980 rund 32 Millionen Tonnen Erdöl gegenüber 8,5 Millionen Tonnen 1973. Davon verbrauchte es 12 Millionen Tonnen, sodass ein Überschuss für den Export blieb. Das Land partizipierte in vielfältiger Weise am Reichtum der Arabischen Halbinsel; unter anderem kamen Investitionen und Touristen von dort. Zudem erhielten die Ägypter von 1970 bis 1981 von anderen arabischen Staaten zwischen 14 und 22 Milliarden Dollar. Doch Ägypten erlebte nur eine wirtschaftliche Scheinblüte. Der produktive Bereich verkümmerte; nur 22 Prozent der Gesamtinvestitionen flossen in die Industrie. Die Landwirtschaft stagnierte, ihre Pro-Kopf-Produktion ging angesichts eines jährlichen Bevölkerungswachstums von inzwischen einer Million sogar leicht zurück. Ende der Fünfzigerjahre hatte Ägypten 5 Prozent des Nahrungsmittelbedarfs importieren müssen, 1981 waren es 50 Prozent. Die Kluft zwischen Arm und Reich nahm dramatisch zu. 1980 eigneten sich 5 Prozent der Bevölkerung, die »fetten Katzen«, wie sie im Volksmund hießen, 21,5 Prozent des Nationaleinkommens an; zugleich verblieben 20 Prozent der Bevölkerung, den Ärmsten, nur 5 Prozent des Nationaleinkommens. 66,8 Prozent aller Familien, so hatte der Herausgeber einer Zeitung errechnet, verfügten pro Tag nur über 1Ägyptisches Pfund oder weniger.
 
Die Enttäuschung der ägyptischen Bevölkerung über ihre wirtschaftliche und soziale Situation schlug in Ablehnung des Sadat-Regimes um. Im Januar 1977 sah sich die Regierung, nachdem sie Preiserhöhungen verfügt hatte, in verschiedenen Städten mit massiven Protestaktionen konfrontiert. Der Staat suchte die sich verschärfenden Spannungen unter Kontrolle zu halten. Sadat ließ Oppositionelle zu Hunderten und Tausenden inhaftieren. Während Nasser die Muslimbrüder, die für einen Attentatsversuch gegen ihn verantwortlich waren, verboten hatte, versuchte Sadat, sie auf seine Seite zu ziehen — einige kehrten aus dem Exil zurück —, und förderte den islamischen Fundamentalismus allgemein. Das sollte sich für ihn als verhängnisvoll erweisen. Zwar unterstützten ihn gemäßigte Muslimbrüder, doch fundamentalistische Radikale lehnten seinen Kurs kompromisslos als »unislamisch« ab. Aus ihren Reihen kamen jene vier Männer — Oberleutnant Chalid al-Islambuli war ihr Anführer —, die am 6. Oktober 1981 Sadat während einer Militärparade erschossen. Mohammed Hosni Mubarak, von Beruf Kampfflieger — er hatte an Kursen in der Sowjetunion teilgenommen und es zum Luftmarschall gebracht —, bis dahin Vizepräsident, wurde Sadats Nachfolger.
 
 »Neue Arabische Ordnung«
 
Im Januar 1981 stieg der Preis für ein Barrel Öl auf fast 40 Dollar; das war eine Preissteigerung von über 2000 Prozent innerhalb eines Jahrzehnts. Das Beziehungsgeflecht in der arabischen Welt unterlag einem schon radikal zu nennenden Wandel. Besonders sprang ins Auge, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich drastisch vergrößerte. Öl produzierende Staaten mit vergleichsweise geringer Bevölkerung standen beim Bruttosozialprodukt pro Kopf an der Weltspitze: Die Vereinigten Arabischen Emirate kamen auf 28000 Dollar (1982), Katar auf 25000 Dollar (1981) und Kuwait auf 20500 Dollar (1982) ; die USA lagen 1981 bei 12000 Dollar. Von dem Bruttosozialprodukt, das Mitte der Achtzigerjahre in der arabischen Welt erzielt wurde, entfielen 41 Prozent auf die 9 Prozent der Araber, die das Glück hatten, in den Golfstaaten zu Hause zu sein, während 20 Prozent der Bevölkerung in den ärmsten Ländern sich mit 3 Prozent begnügen mussten.
 
Mit dem Arm-Reich-Gefälle veränderten sich Abhängigkeiten zwischen arabischen Staaten. In den reichsten betätigten sich Schichten, die existenziell noch vorkapitalistischen Verhältnissen verbunden waren, im Großmaßstab als Kapitalisten und nutzten ihre Gewinne, um ihren gesellschaftlichen Status aufrechtzuerhalten und verstärkt Einfluss auf die Region zu nehmen. Demgegenüber verloren Staaten, die über keine größeren Öleinnahmen verfügten, an Bedeutung, und Ansätze einer eigenständigen Entwicklung, die aus revolutionären Umbrüchen hervorgegangen waren, verkümmerten. Aus reichen Ländern, die einst nur eine periphere Rolle gespielt hatten, floss Kapital in ärmere; umgekehrt verdingten sich Arbeitskräfte aus ärmeren Ländern in reichen. Mitte der Achtzigerjahre waren von den 4,5 Millionen Gastarbeitern — Familienangehörige nicht mitgerechnet — bei den Ölproduzenten die Hälfte Araber, davon wiederum 600000 Palästinenser. Am Ölreichtum der Region partizipierten so auch Staaten, die über kein oder nur wenig eigenes Erdöl verfügten. Das half, krasse soziale Missstände zu mildern. Eine drastische Massenarmut, wie für andere Entwicklungsregionen charakteristisch, gab es in der arabischen Welt nicht.
 
Insgesamt bildete sich, geprägt vom »Petrolismus«, eine »Neue Arabische Ordnung« heraus, wie regionale Insider formulierten. Der Rentierstaat, schon zuvor vorhanden, prägte die Region in charakteristischer Weise. Einige Staaten nutzten die Öleinnahmen, um für das »Nach-Erdölzeitalter« vorzusorgen. Sie errichteten Raffinerien, petrochemische Werke, Düngemittelfabriken sowie Eisen-, Stahl- und Aluminiumwerke. Durch Investitionen und Subventionen erweiterten und steigerten sie die landwirtschaftliche Produktion, was einschloss, die Grundwasserreserven besser zu erschließen und Meerwasserentsalzungsanlagen zu bauen. Doch blieben große Möglichkeiten ungenutzt. Von den Gewinnen, die das Erdöl im Zeitraum 1973 bis 1980 erbrachte, wurden nur 10 Prozent produktiv angelegt, 90 Prozent hingegen für nicht produktive Zwecke ausgegeben. Nicht wenige Bürger Erdöl produzierender Länder glaubten, allein schon durch ihre Staatsbürgerschaft Anspruch auf ein geregeltes und reichliches Einkommen zu haben. Doch auch andere Länder waren betroffen. In Ägypten beispielsweise ließen Fellachen ihr Land brachliegen, da im Ausland, wo sie sich vielfach als Hilfsarbeiter verdingten, größere Verdienstmöglichkeiten lockten. Das Geld, das sie von dort nach Hause brachten, steckten sie vornehmlich in den Konsum. Das Dorf büßte dadurch an produktiven Potenzen ein. Statt zur Ernährung der Stadt beizutragen, zehrten auch seine Bewohner von Nahrungsmittelimporten. Konsum geriet zum Statussymbol — die elektronischen Massenmedien, die auch die Ärmsten und Analphabeten erreichten, trugen das Ihre dazu bei.
 
Das Phänomen Öl erreichte so in der einen oder anderen Weise alle arabischen Staaten, arme wie reiche. Vielleicht werde man einmal im Rückblick, so Hazem El-Beblawi, ein namhafter arabischer Wirtschaftswissenschaftler, den jetzigen Abschnitt der arabischen Geschichte als »Ölzeitalter« bezeichnen. Jedenfalls habe die »Ölkrankheit« die gesamte arabische Welt befallen, sei es durch Öleinnahmen, durch Gastarbeiterüberweisungen oder durch die strategische Bedeutung, die den Ölstaaten weitgehend ohne eigenes Zutun im globalen Bezug zugefallen sei. Alle diese Aspekte des Faktors Öl hätten sich negativ ausgewirkt, zum Beispiel auf die Arbeitsethik; die Relation Leistung/Verdienst sei verloren gegangen.
 
Zwischen 1982/83 und 1996 sank der Ölpreis gravierend, nicht ohne die gesamte Region in Mitleidenschaft zu ziehen. Aus den Golfstaaten setzten, beschleunigt durch die Kuwaitkrise 1990/91, in größerem Umfang Rückwanderungen von Arbeitskräften ein, die in den Rückkehrländern besonders zu wachsender Arbeitslosigkeit führte.
 
Zudem veränderte sich tief greifend die internationale Situation. Die Sowjetunion, deren Einfluss in Nah- und Mittelost bereits ab den Siebzigerjahren rückläufig war, zerfiel. Die USA als einzige Supermacht erlangten eine dominierende Rolle in der Welt. Einige Staaten gingen zu einer neoliberalen Wirtschaftspolitik über, auch Rentierstaaten, deren Bürokratien ausufernden Privatinitiativen ansonsten misstrauisch gegenüberstanden. Ägypten unterstellte zu Beginn der Neunzigerjahre 314 staatliche Unternehmen mit einem Vermögenswert von rund 80 Milliarden Ägyptischen Pfund Holding-Gesellschaften mit dem Ziel, sie zu privatisieren. Dies belebte die Wirtschaft, zeitigte jedoch sozial dieselben Folgen wie zuvor die schrumpfenden »Renteneinnahmen«: Das Pro-Kopf-Einkommen sank, Arbeitslosigkeit und informeller Sektor wuchsen. Oppositionelle, darunter radikale Islamisten, wurden aktiv. Um den Staat zu treffen, nahmen sie in Kauf, mit ihren Terroranschlägen ernsthaft den Tourismus zu beeinträchtigen. Syrien, das in den Siebzigerjahren noch ein durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum von 10 Prozent verbuchen konnte, entschied sich auch für eine Liberalisierungspolitik. Diejenigen, die bislang vom Klientelsystem profitiert hatten, machten mit, doch nur solange sie ihre Stellung nicht gefährdet sahen und Aussichten auf hohe Gewinne hatten, weswegen das Reformwerk vorerst im Ansatz stecken blieb.
 
Hart traf es die Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten. Traditionell stark unterentwickelt, geriet die dortige Wirtschaft nach 1967 in eine strukturelle Abhängigkeit von Israel. Die palästinensischen Bewohner hofften, der mit dem Namen Oslo verbundene Friedensprozess werde ihre Lebenslage verbessern. Sie sahen sich enttäuscht, zumindest vorerst. Im Gazastreifen stieg die Arbeitslosenquote von 50 Prozent 1993 auf 60 Prozent 1997. Im Westjordangebiet betrug sie 35 Prozent. Als das UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge UNRWA 1992 im Gazastreifen acht Arbeitsstellen bei der Müllabfuhr ausschrieb, meldeten sich 11665 Bewerber.
 
Prof. Dr. Martin Robbe
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Golfkrieg: Regional- und weltpolitische Aspekte der Golfkriege
 
Rohstoffe: Die Rohstofffrage als politisches Problem
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Naher Osten: Arabische Staaten im Sog des Ost-West-Konflikts
 
 
Beck, Martin: Die Erdöl-Rentier-Staaten des Nahen und Mittleren Ostens. Interessen, erdölpolitische Kooperation und Entwicklungstendenzen. Münster u. a. 1993.
 Engdahl, F. William: Mit der Ölwaffe zur Weltmacht. Der Weg zur neuen Weltordnung. Aus dem Englischen. Wiesbaden 1992.

Universal-Lexikon. 2012.

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